Dienstag, 9. November 2010

Ein Tisch ist ein Tisch oder
der Tisch der Philosophen


Der alte Mann in Peter Bichsels Geschichte benennt den Tisch um. Er nennt ihn Teppich. Und den Teppich nennt er Schrank und den Schrank nennt er Zeitung u.s.w.
Es ändert sich nix an der Welt, aber er kann sich mit den anderen Leuten nicht mehr verständigen.
Die Idee, die Gegenstände in seinem Zimmer umzubenennen entspringt einem Mutwillen aus Langeweile und der Beliebigkeit der Namen. Wie Bateson und Jackson einmal bemerkten, »hat die Zahl 5 nichts besonders Fünfartiges an sich und das Wort ›Tisch‹ nichts besonders Tischähnliches« [Bateson, Gregory, Don D. Jackson: »Some Varieties of Pathogenic Organization.«
Das klingt lustig; aber so ganz ohne ist der "Tisch" nicht. Sartre: Als sinnliches Bezugszentrum ist der Körper das, jenseits dessen ich bin, insofern ich unmittelbar bei dem Glas oder dem Tisch oder dem fernen Baum, den ich wahrnehme, anwesend bin. Jean-Paul Sartre, Sein und Nichts, S.576.
Der Tisch als sinnliches Bezugszentrum macht aus der Fleischmasse, die meinen Namen trägt, einen Körper: Ein Körper ist insofern Körper, als sich diese Fleischmasse, die er ist, durch den Tisch, den er betrachtet, den Stuhl, nach dem er greift, das Trottoir, auf dem er geht usw., definiert. Jean-Paul Sartre, SuN, 607.
Und dann drückt mir der Tisch die Hand: Die Hand liegt auf dem Tisch und „empfindet“ einen Druck, (...). Das alles ist wahrgenommen und gehört zugleich zur Leibeswahrnehmung. Husserl, Edmund: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Texte aus dem Nachlass (1893-1912).
Damit nicht genug. Ein unbefangener Mensch weiß sich vom Tisch angeblickt: Zu betonen, daß wir damit nicht behaupten, daß er von Stuhl, Tisch oder Bild effektiv gesehen werde, ist überflüssig. Was wir behaupten, ist allein, daß es zu seiner unbefangenen „Weltanschauung" gehöre, sich als „von der Welt angeschaut" zu betrachten. (...) Der Gedanke, daß der Stuhl, auf dem wir zu sitzen pflegen; der Tisch, an dem wir täglich schreiben; ja sogar unser Spiegel uns noch niemals gesehen haben und uns nicht kennen; (...) und daß wir, von einer Welt stockblinder Dinge umringt, sehend-ungesehen unser Leben zu absolvieren haben — dieser Gedanke ist von so abenteuerlicher Befremdlichkeit, daß man geradezu „Luft von anderen Planeten" zu spüren vermeint und sich nur schwer des Gefühls erwehren kann, sich die gespensterhaften Lebensbedingungen auf einer verdunkelten anderen Welt vor Augen geführt zu haben. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution; C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung München 1956; S.79
Jetzt können wir fragen: wer ist der Tisch?
"Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes zum Beispiel wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich-übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne." (Karl Marx, MEW XXIII, 85)
Ist der Tisch ein übersinnliches Ding? Zeigt sich vielleicht im Traum seine Wahrheit?
Tische, gedeckte Tische und Bretter sind gleichfalls Frauen, wohl des Gegensatzes wegen, der hier die Körperwölbungen aufhebt. »Holz« scheint überhaupt nach seinen sprachlichen Beziehungen ein Vertreter des weiblichen Stoffes (Materie) zu sein. Der Name der Insel Madeira bedeutet im Portugiesischen: Holz. Da »Tisch und Bett« die Ehe ausmachen, wird im Traum häufig der erstere für das letztere gesetzt und, soweit es angeht, der sexuelle Vorstellungskomplex auf den Esskomplex transponiert. Freud, Sigm.: Gesammelte Schriften Zweiter Band Die Traumdeutung; Leipzig, Wien, Zürich 1925
Der Baier sagt: "Hoiz vor da hüttn ham" und würdigt damit eine barocke Weiblichkeit. Ist der Tisch so gedeutet, dann fragen wir mal Hegel, warum er als Beispiel für ein 'abgeschmacktes negativ-unendliches Urteil' anführt: ... also z.B. der Geist [ist] nicht rot, gelb usf., nicht sauer, nicht alkalisch usf., die Rose ist kein Elephant, der Verstand ist kein Tisch und dergleichen. Georg Wilhelm Friedrich Hegel Wissenschaft der Logik - c. Das unendliche Urteil S.324

Der Verstand ist kein Tisch? Der Verstand ist auch kein Tintenfass, kein Dochtschneider, kein werweißwassonst noch beim Hegel rumstand und rumlag... Was bringt ausgerechnet Verstand und Tisch zueinander? (Tisch = Holz = Mater-ie = weiblich?)

Man läßt aus derselben Materie eine Vielheit von Dingen hervorgehen, die Idee dagegen soll nur ein einziges Mal erzeugen; in Wirklichkeit kommt aus einer Materie nur ein einziger Tisch; der aber, der die Form heranbringt, ist selbst nur einer und wird doch der Urheber einer Vielheit. Ganz ähnlich ist es im Verhältnis des Männlichen zum Weiblichen. Aristoteles, Metaphysik

Ein Tisch ist ein Tisch. Von wegen!

"Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglichen, in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt, vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Konsequenz: wenn er einen Augenblick nur aus den Gefängniswänden dieses Glaubens heraus könnte, so wäre es sofort mit seinem »Selbstbewusstsein« vorbei." Nietzsche F. (1873) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn. In: Colli & Montinari (1980) KSA 1, S. 881
Hart und starr müssen die Phänomene werden, eine Wahrheit an sich - sonst ist es mit dem Selbstbewusstsein vorbei!
Was hängt nicht alles an so einem Tisch!


Dienstag, 12. Oktober 2010

Geschrei des Clowns

Als weitere traditionelle Kopfbedeckung kann der Papst in der kalten Jahreszeit einen mit Hermelinfell gefütterten Camauro tragen. Als erster Papst seit Johannes XXIII. trägt Benedikt XVI. den Camauro neuerdings wieder regelmäßig.
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Wer heute über die Sache des christlichen Glaubens vor Menschen zu reden versucht, die nicht durch Beruf oder Konvention im Innern des kirchlichen Redens und Denkens angesiedelt sind, wird sehr bald das Fremde und Befremdliche eines solchen Unterfangens verspüren. Er wird wahrscheinlich bald das Gefühl haben, seine Situation sei nur allzu treffend beschrieben in der bekannten Gleichniserzählung Kierkegaards über den Clown und das brennende Dorf, die Harvey Cox kürzlich in seinem Buch » Stadt ohne Gott? « wieder aufgegriffen hata. Diese Geschichte sagt, dass ein Reisezirkus in Dänemark in Brand geraten war. Der Direktor schickte daraufhin den Clown, der schon zur Vorstellung gerüstet war, in das benachbarte Dorf, um Hilfe zu holen, zumal die Gefahr bestand, dass über die abgeernteten, ausgetrockneten Felder das Feuer auch auf das Dorf übergreifen würde. Der Clown eilte in das Dorf und bat die Bewohner, sie möchten eiligst zu dem brennenden Zirkus kommen und löschen helfen. Aber die Dörfler hielten das Geschrei des Clowns lediglich für einen ausgezeichneten Werbetrick, um sie möglichst zahlreich in die Vorstellung zu locken; sie applaudierten und lachten bis zu Tränen. Dem Clown war mehr zum Weinen als zum Lachen zumute; er versuchte vergebens, die Menschen zu beschwören, ihnen klarzumachen, dies sei keine Verstellung, kein Trick, es sei bitterer Ernst, es brenne wirklich. Sein Flehen steigerte nur das Gelächter, man fand, er spiele seine Rolle ausgezeichnet - bis schließlich in der Tat das Feuer auf das Dorf übergegriffen hatte und jede Hilfe zu spät kam, so dass Dorf und Zirkus gleichermaßen verbrannten.
Cox erzählt diese Geschichte als Beispiel für die Situation des Theologen heute und sieht in dem Clown, der seine Botschaft gar nicht bis zum wirklichen Gehör der Menschen bringen kann, das Bild des Theologen. Er wird in seinen Clownsgewändern aus dem Mittelalter oder aus welcher Vergangenheit auch immer gar nicht ernst genommen. Er kann sagen, was er will, er ist gleichsam etikettiert und eingeordnet durch seine Rolle.
Joseph Ratzinger. Einführung in das Christentum.

Montag, 11. Oktober 2010

...nicht einmal ein armseliger Stempel

Fürchterlich, fürchterlich! Das war ja eine Vereinsmeierei allerärgster Art und Weise. In diesen Klub also sollte ich eintreten?Dann kamen die Neuaufnahmen zur Sprache, das heißt: es kam meine Einfangung zur Behandlung. Ich begann nun zu fragen — jedoch außer einigen Leitsätzen war nichts vorhanden, kein Programm, kein Flugblatt, überhaupt nichts Gedrucktes, keine Mitgliedskarten, ja nicht einmal ein armseliger Stempel, nur ersichtlich guter Glaube und Wille. (A.H. Mein Kampf S.241)

Als ich im Herbst 1919 zur damaligen Sechsmännerpartei kam, hatte diese weder eine Geschäftsstelle noch einen Angestellten, ja nicht einmal Formulare oder Stempel, nichts Gedrucktes war vorhanden. (A.H. Mein Kampf S.662)

Der sichtbare Erfolg dieser Haltung aber zeigte sich am 9. November 1923: Als ich vier Jahre vorher zur Bewegung kam, war nicht einmal ein Stempel vorhanden. Am 9. November 1923 fand die Auflösung der Partei, die Beschlagnahme ihres Vermögens statt. Dieses bezifferte sich einschließlich aller Wertobjekte und der Zeitung bereits auf über hundertsiebzigtausend Goldmark. (A.H. Mein Kampf S.669)

Mittwoch, 1. September 2010

Philosophische Praxis

Bundesbank-Vorstand berät über Sarrazin

Der Vorstand der Bundesbank berät am Vormittag über die berufliche Zukunft seines Mitglieds Sarrazin. Das Gremium will auch mit dem Ethik-Beauftragten der Bundesbank über die umstrittenen Äußerungen Sarrazins sprechen. Die Bank selbst könnte Sarrazin nicht entlassen, sondern müsste Bundespräsident Wulff darum bitten. ...1)

Ein nächster Schritt in Richtung auf das Institut des Notphilosophen (ähnlich dem Notarzt). Sein Einsatz im Katastrophendienst bei moralisch-ethischen Havarien sollte gesetzlich vorgeschrieben werden. Das Tragen einer Armbinde mit der Aufschrift "Notphilosoph" sollte nur beim Einsatz in der Öffentlichkeit erlaubt sein, dagegen können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Einzelfällen auf Antrag Ausnahmen von den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung genehmigen (§ 46 StVO). Im Rahmen dieser Ausnahmemöglichkeiten kann Notphilosophen im Einsatz das Parken an Stellen gestattet werden, an denen es an sich verboten ist.

1) http://www.dradio.de/nachrichten/ NACHRICHTEN Mittwoch, 01. September 2010 08:00 Uhr

Mittwoch, 11. August 2010

Theorie Theater

»,Theorie‘ stammt von gr. Θεωρειν, ,schauen‘, ,betrachten‘, Θεωρια war
ursprünglich eine sakrale Festgesandtschaft, die zur ,Schau‘ einer sakralen
Zeremonie anreist. Das Verb Θεωρειν bedeutete so ,eigens zum Schauen kommen‘, insbesondere in ein eigens dazu errichtetes Θεατρον, ein ,Theater‘. Es war in antiken Poleis als Halbrund in exponierte Hänge gegraben und prächtig ausgestattet, diente Festspielen für Götter und sollte mçglichst die gesamte Bürgerschaft aufnehmen. Der Θεατης, der ,Zuschauer‘, saß dort erhöht, überschaute das in der Orchestra, ursprünglich einem runden Tanzplatz, und auf der Bühne dargebotene Geschehen in räumlicher und mentaler Distanz. Sein Horizont war erweitert, er hatte die Übersicht über das Geschehen, kannte zumeist im groben den Verlauf und den Ausgang des (tragisch oder komisch) erschütternden Geschehens und konnte um so mehr auf Abweichungen und Neuerungen der Darbietung achten. Er konnte Spiel und Alltag unterscheiden. Er blieb ruhig sitzen und doch nicht ruhig. Er beobachtete die agierenden Schauspieler auf der Bühne und den Chor, der von der Orchestra aus deren Tun und Lassen mit Freude oder Sorge kommentierte und zuweilen auch in die Handlung eingriff.«

Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung S.513f

Montag, 26. Juli 2010

Pi-mal-Daumen-Philosophie

»Wir operieren (außerordentlich erfolgreich) mit physischen Gegenständen für unsere alltägliche Zwecke. Dabei ist kaum einer unter uns professioneller Physiker, und diejenigen, die es sind, sind beim alltäglichen Umgang mit physischen Objekten meist nicht besser als andere. Was uns normalerweise leitet, ist ein Sammelsurium physikalischer Pi-mal-Daumen-Generalisierungen. Nicht anders, so die Idee, funktioniert unser alltäglicher Umgang mit intentionalen Phänomenen.«
(Tatzel, Armin: Intentionalität und Begriffe DISS Hamburg 2000)
Armin Tatzel bedient sich in seiner Dissertation des Begriffs Allerweltspsychologie wenn er von den psychologischen Mutmaßungen schreibt, die wir im Alltag brauchen, um das Denken und Verhalten unserer Mitakteure zu erkennen.
Pi-mal-Daumen-Generalisierung für eine Allerweltsphilosophie?

Donnerstag, 22. Juli 2010

Gnadenseil

Das Gnadenseil war ein alter Rechtsbrauch im preussischen Kleve (Niederrhein)(1).

Friedrich Wilhelm II. von Preußen ließ bei seiner Thronbesteigung die Huldigung der Landstände von Cleve und Mark zu Cleve vornehmen; nach Beendigung der Feierlichkeiten fand nach alter Sitte das Auswerfen des Gnadenseiles statt; der Erbmarschall warf das Gnadenseil auf dem Schloßberg aus mit dem Ausrufe, daß wer eine Untat begangen, wenn er dieses Seil ergriffe, vom König Gnade zu hoffen hätte
Fundstelle: MschrRhWestfG. 5 (1879) 249 in: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW)
Heidelberger Akademie der Wissenschaften